MANNEQUIN PUSSY

Foto© by CJ Harvey

Schönheit und Aggression

In der Warschauer Straße in Berlin gibt es ein Hotel, welches einen gewissen Boheme-Glanz ausstrahlt und aus der Zeit gefallen scheint. Gerne steigen hier Musiker und andere Künstler ab. An den grossen Fenstern zur belebten Strasse hin zu sitzen ist eine schöne Sache. Es wirkt stets ein bisschen, als würden gleich Debbie Harry und Andy Warhol zur Tür reinschneien. Ganz so glamourös ist es just in diesem Augenblick nicht, aber beinahe: ein Ox-Schreiber kommt in die heute sonnendurchflutete Lounge, um mit Gründungsmitglied und Sängerin Missy sowie der ziemlich neu zur Band gekommenen Gitarristin Maxine über das ausgezeichnete neue Album „I Got Heaven“ zu sprechen. MANNEQUIN PUSSY gründeten sich im Jahr 2010, brachten zwei Alben via Tiny Engines raus, das dritte bei Epitaph, wo Anfang März auch „I Got Heaven“ erscheinen wird. Punk ist ein wichtiger Teil der äußerst abwechslungsreichen Musik, es gibt aber auch Indierock und ruhige Momente. Wer HOLE oder YEAH YEAH YEAHS mag, dürfte an MANNEQUIN PUSSY ebenfalls Gefallen finden.

Beim Hören eurer neuen Platte entsteht häufig der Eindruck, ihr kombiniert gern Punk und Hardcore mit schönen Melodien. War das der Plan?

Missy: Es war nicht unbedingt geplant. Es kam aus uns raus. Wir wollten auf jeden Fall eine viel größere Bandbreite an Musik als bisher auf dem Album haben.
Maxine: ... und mehr Farben, um damit zu malen, neue Dinge ausprobieren, es einfach sehr schön machen. Oder aber hässlich und intensiv. Wir haben alle diese beiden Seiten in uns. Ich bin eine sehr emotionale Person und fühle mich jeden Tag anders. Das wird ganz natürlich in die Musik übertragen.
Missy: Es gibt gleichzeitig Schönheit und Aggression. Wir haben versucht, das zusammenzubringen.

Eure Arbeitsweise hat sich etwas geändert, da ihr mehr als bisher gemeinsam an den Songs beteiligt wart.
Missy: Es war ein interessantes Experiment, da wir alle aus Philadelphia nach Los Angeles gekommen sind und dann gemeinsam vier oder fünf Tage pro Woche zusammen gearbeitet haben. So etwas gab es bei uns vorher nicht. Früher haben wir gemeinsam Ideen ausgetauscht und sind nach Hause gegangen. Bei den fünf Tagen pro Woche sprudelte viel aus uns heraus. Unser Produzent John Congleton war auch ständig dabei und hat an den Songs mitgearbeitet. Vorher stellte ich der Band einen Song vor, wenn ich ihn fertig hatte.
Maxine: Wir haben tatsächlich sehr diszipliniert gearbeitet.

Ihr hattet 17 Lieder. Wie habt ihr die zehn für das Album ausgesucht?
Missy: Wir alle haben uns die Lieder zu Hause gehört, sind zum Proben zusammen gekommen und haben auf einem Chartboard Noten notiert von A bis D, um die Songs zu bewerten. Anschließend haben wir die zehn beliebtesten für das Album genommen.

Um mal auf die verschiedenen Farben zurückzukommen: Was habt ihr früher eigentlich gehört? Was waren eure Erweckungserlebnisse in puncto Musik?
Maxine: Bei mir waren es ein älterer Bruder und eine ältere Schwester. Auch meine Eltern sind musikalisch. Mein Vater ist Drummer. Meine Mutter hat überhaupt kein Rhythmusgefühl, aber sie ist eine sehr gute Sängerin. So bin ich damit aufgewachsen, dass ständig im Haus musiziert wurde.
Missy: Mein Opa hatte einen Plattenladen in Baltimore. Den Laden gab es bis in die 1990er Jahre. Und als Kind hatte ich wirklich schlimme Schlafstörungen, darum bin ich nachts immer aufgestanden, um MTV zu gucken. Da gab es Videos von MC5, den STOOGES und YEAH YEAH YEAHS. Diese ganzen tollen Bands mit aggressivem Rock und lauten Gitarren! Das hat in mir Funken fliegen lassen. Mit dem Zeug, das im Radio lief, konnte ich hingegen überhaupt nichts anfangen.

Mögt ihr nach wie vor Musikvideos? Eure eigenen sehen nach einer Menge Ideen und Arbeit aus.
Missy: Ja, das ist so. Im günstigsten Fall hebt ein Video das Lied in eine höhere Sphäre und beide zusammen kreieren ein neues künstlerisches Statement. Du kannst so eine ganze Welt in einem Song herauf beschwören, so wie in „I got heaven“, wo ich nackt in einem Feld herumlaufe. Ist das real? Passiert es wirklich? Ist es ein Spiel mit Surrealismus?

Mein liebstes Video ist „Cream“. Es wirkt wie einer der Horrorfilme, die ihr augenscheinlich mögt. Welche?
Missy: Ich liebe die alten „Halloween“-Filme und bekomme wirklich Angst bei Horrorfilmen. Ich mag eher etwas kitschige Werke, wo du auch mal lachen kannst.

Maxine: Beim „Cream“-Video sehe ich etwas zwischen „Freitag der 13.“ und Pee Wee Herman. Das ist meine Obsession: mit verschiedenen Themen spielen und nicht unbedingt zu tief in einem davon graben. Ich liebe Horrorfilme, wenn sie verspielt sind. Mein liebster ist ein alter von Peter Jackson: „Dead Alive/Braindead“. Er ist wirklich sehr lustig. Das Blut darin sieht super künstlich aus!

Im Info zu „I Got Heaven“ steht, das Ethos der Band sei, Leute zusammenzubringen. Wie macht ihr das?
Missy: Innerhalb einer Band kannst du die individuellen Talente und Energien ganz verschiedener Leute kombinieren, die gleichen kreativen Ziele verfolgen. Besonders für uns als Amerikaner, die so konditioniert sind, alles für unseren Hyperindividualismus zu tun und zu opfern, ist das interessant. Denn dieser ist nur da, um uns von anderen zu separieren. Es geht nur noch um dich und deine privaten Ziele, um Glück, Bekanntheitsgrad, Ruhm und die Aufmerksamkeit, die du dafür bekommst. In der Gruppendynamik sind wir alle miteinander verbunden und teilen unsere Talente, was das Ganze auf ein neues Level hebt. In gewisser Weise ist das antikapitalistisch, weil Kapitalismus immer bedeutet, dass sich eine Person an der Spitze befindet. In der Band teilen wir uns hingegen alles.

Deine USA-Beschreibung hört sich neoliberal an.
Missy: In Amerika ist Neoliberalismus etwas anders als zum Beispiel in Europa. Im Grunde genommen ist es eine Form von Faschismus.
Maxine: In den USA scheint es eine Blockade zu geben, wie weit du nach links gehen kannst, aber es gibt absolut keine Grenze, wie weit du nach rechts gehen kannst. Es kommt mir momentan so vor, als seien wir in diesem Regierungssystem gefangen, das niemandem etwas bringt außer den Reichen.
Missy: Um auf deine Frage zurückzukommen, wir sind vier sehr starke Individuen mit ganz verschiedenen Geschmäckern und Lebensläufen. Das zeigt sich auch bei unserem Publikum, da gibt es nicht nur einen Typ. Es ist immer schön zu sehen, dass es eine Mixtur von ganz verschiedenen Leuten ist, die gemeinsam eine Katharsis erleben und Spaß haben wollen.
Maxine: Es geht dabei nicht so misogyn zu wie in vielen traditionellen Musikszenen, so wie bei alten Idealen von Punk. Ich liebe Punkrock, aber manchmal habe ich das Gefühl die Leute verkleiden sich einfach gern, damit sie alle gleich aussehen.

Ist das so, weil eure Musik so verschiedenartig ist wie auch die Themen, die ihr ansprecht? Ich habe vorhin mit eurer Managerin über die Berliner Szene der Achtziger Jahre gesprochen, als viele Leute in sehr billigen Wohnungen zusammenlebten, was eine hohe Kreativität beförderte. Aber wie du vorhin beschrieben hast, es scheint nicht gewollt zu sein, dass Leute heutzutage so sind.
Missy: Absolut. Es wird von bestimmten Regierungen als gefährlich betrachtet, wenn Leute sich zu einem Kollektiv zusammenschließen. Es wirkt für Mächtige wie eine Bedrohung, die Leute halten zusammen und denken nicht nur an sich selbst. In der Gemeinschaft sind sie stärker, weil darin zum Beispiel Arbeiter Solidarität finden und sich darin bestärken können, für Dinge zu kämpfen, die das Leben aller Beteiligten besser machen. Das ist natürlich für eine Regierung gefährlich, weil wir plötzlich nicht mehr alle Angst voreinander haben. Die wollen uns lieber gegeneinander ausspielen, damit wir nicht zusammenarbeiten.

Ist es im Sinne der Förderung einer besseren Welt notwendig, unsere Persönlichkeit zu entwickeln, beispielsweise was die Kommunikationsskills angeht?
Missy: Ich glaube nicht wirklich, dass du gleich deine ganze Persönlichkeit so weit entwickeln musst, aber ich denke es ist gut für jeden von uns, das eigene Ego etwas zurückzufahren, um vorzugsweise Empathie an diese Stelle zu packen.
Maxine: Dazu gehört auch zuzugeben, wenn du mal falsch liegst, oder mit anderen Kompromisse einzugehen. Ich denke an so viele Situationen, wo ich ein starkes Ego hatte und dachte, denen zeige ich jetzt aber mal, wo es langgeht. Aber mit jemand anderem zu tun haben, bedeutet immer auch, in einen Spiegel zu schauen, denn so verschieden voneinander sind wir alle gar nicht.
Missy: Ein Beispiel: Wenn dich an jemand anderem etwas nervt, dann frag dich vielleicht mal: Was hat es mit dir selbst zu tun?

Ich bin mir sicher, dass zum Beispiel Rassismus, Homophobie und Antisemitismus so funktionieren.
Maxine: Und es hat häufig mit Scham zu tun. Transphobe Leute sind oft so: Wow, sie ist irgendwie heiß! Und dann: Warte mal ...! Und ein großer Teil der Musikszene in den Staaten ist weiß. Die Leute kennen überhaupt keine People of Color, Schwulen oder Trans-Leute. Dann hören sie die Botschaft eines wütenden Politikers oder von Menschen, die in den Nachrichten rumschreien und wirklich sehr kleingeistige Ideen verbreiten.
Missy: Die amerikanische Gesellschaft und ganz besonders die Mächtigen sind Meister der Propaganda und können Themen aufploppen lassen, die es gar nicht gibt. Damit sind sie nicht gezwungen, sich mit den real existierenden Problemen zu beschäftigen, die uns alle betreffen, zum Beispiel den Lebenskosten, den hohen Preisen für Essen, den schwindelerregenden Benzinpreisen ... all diese Dinge. All die „fake issues“ lenken ab und haben häufig nichts mit der Realität zu tun. Täglich die Amerikaner glauben zu lassen, es wäre ein wichtigeres Thema, ob Schwule heiraten dürfen oder nicht, und sich gegebenenfalls darüber zu echauffieren, anstatt darüber zu diskutieren, dass eine Gallone Benzin inzwischen sieben Dollar kostet oder dass kaum Geld für Bildung oder das Gesundheitssystem bereitgestellt wird.

Wie könnte es besser werden? Ist das Zweiparteiensystem out?
Maxine: Ich habe keine Lösung. Ein Schritt in eine gute Richtung wäre eine medizinische Grundversorgung für alle, ein System, in dem du Medikamente bekommst oder eine Dialyse, wenn sie notwendig ist.
Missy: Wenn die US-Steuerzahler zu bestimmen hätten, was mit ihrem Geld geschieht, würdest du wahrscheinlich eine dramatische Wende erleben. Ich bezweifle stark, dass die meisten Amerikaner es gut finden, dass ihr Geld verwendet wird, um in einen Krieg zu ziehen. Der Durchschnittsbürger würde wahrscheinlich sagen: Gebt mein Geld für Schulen und Lehrer aus, für den Ausbau von Straßen und des Gesundheitssystems. Damit Amerika sich ändern kann, muss es eine fundamentale emotionale Revolution geben: Menschen werden erkennen, es gibt keinen Unterschied zwischen uns allen. Wir streben alle nach den gleichen Dingen.
Maxine: Die alteingesessene politische Generation hat viel zu viel Macht. Die muss abtreten.

Aber geben die nicht ihre Macht einfach an ihre Nachfahren weiter?
Maxine: Die haben dann aber vielleicht andere und bessere Vorstellungen.
Missy: Das ist momentan alles, worauf wir hoffen können. Amerika ist viel zu weit gegangen in seiner Abhängigkeit von großen Konzernen.
Maxine: Ein Anfang wäre, dass diese Konzerne nicht mehr wie Einzelpersonen behandelt werden. Wir brauchen ein neues Steuersystem, das die Reichen mehr besteuert. Ich habe 2018 mehr Steuern gezahlt als Donald Trump. Es wird ein sehr langsamer Prozess sein, wenn sich etwas ändern soll. Vielleicht erleben wir es gar nicht mehr, sondern die Generationen, die nach uns kommen. Entweder bekommen wir diesen ganzen Scheiß in den Griff oder wir werden alle verdammt noch mal draufgehen, haha. Als Spezies, nicht als Individuen.